6. Einstimmung in den Tag des Judentums – diesmal in Ottakring

Zum sechsten Mal lud die Vernetzte Ökumene Wien West (Dekanate 12-19) zu ihrer „Einstimmung“ in den Tag des Judentums, verstanden als Ergänzung zum Gottesdienst des „Ökumenischen Rates der Kirchen“ aus diesem Anlass, „um nicht nur der gemeinsamen Wurzeln der christlichen Kirchen im Judentum, sondern der christlich-jüdisch gemeinsamen Wurzeln im Glauben an den einen Gott Abrahams“ zu gedenken; und zwar „Christen und Juden gemeinsam!“ - so das Motto der alljährlichen Veranstaltung, erklärte Elisabeth Lutter bei ihrer Begrüßung. Über 120 Gäste waren der Einladung in die Bezirksvorstehung Ottakring gefolgt, um des Hubertempels und der verdienstvollen Familie Kuffner zu gedenken. Auch der Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde, Mag. Raimund Fastenbauer, war gekommen und mit ihm der Oberkantor Mag. Shmual Barzilei, um später das Totengebet für die verfolgen und ermordeten Juden aller Pogrome bis in die Shoa zu singen. Ebenso war Dr. Willy Weisz als Vizepräsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusamenarbeit anwesend, zusammen mit Präsident Univ.Prof. Dr. Martin Jäggle, der als einer der Referenten später selbst das Wort ergriff.

Nach den Eröffnungsworten der Bezirksvorstehung erläuterte Elisabeth Lutter die Grundgedanken dieser alljährlichen Ge- und Bedenkveranstaltung: Gemeinsame Trauerarbeit von Juden und Christen an einer Stätte ehemaligen jüdischen Glaubens und Lebens solle dieser Abend sein, hier werde das jüdische Totengebet konkret mitvollziehbar und lege das christliche Schuldbekenntnis nahe, hier kämen Zeitzeugen oder ihre Nachkommen zu Wort und ermöglichten so ein Gespräch zwischen Christen und Juden, im Sinne von mehr Verständnis füreinander und künftigem besseren Miteinander. Dieses Anliegen verstärkte Dechant Ferenc Simon als Beauftragter der Erzdiözese Wien für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

Darauf folgte der unmittelbar auf Ottakring bezogene Programmabschnitt: Die Historikerin Tina Walzer berichtete mitreißend am Beispiel der Familie Kuffner über „jüdisches Leben und Wirken aus dem Glauben“ in der ehemaligen Wiener Arbeitervorstadt Ottakring. Die Kuffners, deren späte Nachkommen noch heute in der Schweiz leben, waren ursprünglich aus Mähren zugewandert und hatten sich über Generationen hochgearbeitet bis zu jenen Gründer-Persönlichkeiten, die für die Wissenschaft und für die Wirtschaft Bleibendes hinterlassen haben: die Kuffner-Sternwarte und die Ottakringer Brauerei, und dazu soziale Strukturen - nicht nur für ihre Arbeiterschaft -, die heute noch als beispielhaft gelten können.

Der zweite Schwerpunkt des Gedenkens war der ehemalige Hubertempel. Er wurde – wie fast alle Wiener Synagogen – in der berüchtigten Pogromnacht vom November 1938 von den Nationalsozialisten zerstört. Mit Hilfe von Computer-Rekonstruktionen von Bob Martens (Technische Universität Wien) ließ Dr. Pierre Genée, der Wiener Synagogenforscher, den Hubertempel wieder vor den Augen der Versammelten virtuell erstehen.
In Verbindung mit der Familie Kuffner war von den nach Ottakring Zugereisten des 19. Jahrhunderts und ihrem Sich-Emporarbeiten berichtet worden. Auch sie haben sich wohl – ähnlich wie überall die Juden - in der ortsansässigen Bevölkerung zunächst fremd gefühlt und mussten erst ihren Platz im sozialen Gefüge suchen. Ähnlich ist es in den 60er-, 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts den serbischen Gastarbeiten ergangen, die noch immer einen beachtlichen Anteil an der Ottakringer Bevölkerung ausmachen und ihren religiösen Mittelpunkt, die serbisch-orthodoxe Kirche, in Ottakring haben. Darum wurde der serbisch-orthodoxe Bischof Andrej Cilerdzic gebeten zu berichten, ob und wie die Menschen dieser Familien ein „Anders-Sein“ gegenüber der sog. Mehrheitsgesellschaft erlebt haben oder noch erleben, auf Grund ihrer Sprache, ihrer Lebensgewohnheiten, auch ihrer Religion. Die Gefühle eines „Nachgeborenen der Shoa“, schilderte anschließend, gleichsam komplementär zum Vorigen, in einem sehr persönlichen Statement Mag. Hans Bittner. Als Gymnasialprofessor bearbeitet er mit seinen SchülerInnen aus eigener Betroffenheit seine Erfahrungen. Wichtig ist das besonders auch für die jüdischen Nachgeborenen, denn: „Ohne Herkunft keine Zukunft“, sagt die Entwicklungspsychologie. Wissen jüdische Kinder heute um ihre Familiengeschichten? Wer erzählt sie ihnen? Fühlen jüdische Kinder ein „Dazugehören“ zu unserer Gesellschaft?
Leider musste die Gedenk-Versammlung auf den als „echten Ottakringer“ eingeladenen Zeitzeugen Prof. Arik Brauer verzichten. Man wollte ihn um ein paar Worte seiner Erinnerung als jüdisches Kind im „alten“ Ottakring bitten. Umso dankbarer wurde Christiane Wenckheim begrüßt: Als Vorstandsvorsitzende der Ottakringer Getränke AG war sie nicht im eigentlichen Sinn als „Zeitzeugin“, sondern als Nachfolgerin der Kuffners gekommen, um zu berichten, wie es ihr in den „großen Fußspuren“ der Gründer der Ottakringer Brauerei geht. Und sie hatte nicht nur eine wichtige „Wortspende“ mitgebracht („Vergangenheit ist nicht vergangen, es gibt keinen Schlussstrich“), sondern in großzügiger Weise eine „Ottakringer Bier“-Spende für alle bei der anschließenden Agape.
Im Anschluss an diesen zeitgeschichtlich-historischen Teil des Programms eröffnete Univ.Prof.Dr.Martin Jäggle als Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit mit seinen Überlegungen zu „Integration als Friedensarbeit“ den spirituellen Abschnitt des Abends. Ein Vers aus dem christlich-jüdisch gemeinsamen Ersten Testament, dem Buch des Propheten Ezechiel, leitete dann über zum Jüdischen Totengebet. Oberkantor Shmuel Barzilei von der Israelitischen Kultusgemeinde sang es ergreifend im Gedenken an die zahllosen Toten vor allem der Shoa. Tief betroffen sprach anschließend Dechant Ferenc Simon im Namen aller das christliche Schuldbekenntnis, nach Worten des großen Papstes Johannes XXIII., im Wissen darum, dass die Zerstörungen, Schmähungen und Ermordungen der Juden durch den nationalsozialistischen Terror auch mit schweigender Duldung einer christlichen Umwelt geschehen sind. Auf das Schuldbekenntnis folgten Friedensbitten von Bischof Andrej (serb.orth.Kirche), Dechant Simon (röm.kath.Kirche) und Pastor Fischer-Dörl (Baptistengemeinde) .
Am Ende des Gedenkabends trug Elisabeth Lutter Schlussgedanken von Mag. Awi Blumenfeld (Religionspädagogische Hochschule Wien-Krems), selbst Jude, vor; er selbst war kurz davor aus der Veranstaltung ans Krankenbett seiner Gattin abberufen worden. Wichtig und berührend waren seine Ausführungen über die Bedeutung des Erinnerns für die jüdische Kultur. Die „Mazltov-Musik“ setzte schließlich den musikalischen Schlusspunkt und lud zur koscheren Agape.
Ein Büchertisch mit zwei Büchern wartete dort: Sie berichten von den „wahren Zeugen“ und von „jüdischen Spuren“ im 18. und im 19. Bezirk. Der Autor bzw. die Verlegerin stellten sie vor.

Dr. Elisabeth Lutter



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