Hennefeld, Thomas NICHT SCHWEIGEN

1 Um Zions willen kann ich nicht schweigen, / um Jerusalems willen nicht still sein, bis das Recht in ihm aufstrahlt wie ein helles Licht / und sein Heil aufleuchtet wie eine brennende Fackel.
2 Dann sehen die Völker deine Gerechtigkeit / und alle Könige deine strahlende Pracht.Man ruft dich mit einem neuen Namen, / den der Mund des Herrn für dich bestimmt.
3 Du wirst zu einer prächtigen Krone / in der Hand des Herrn, zu einem königlichen Diadem / in der Rechten deines Gottes.
4 Nicht länger nennt man dich «Die Verlassene» / und dein Land nicht mehr «Das Ödland»,sondern man nennt dich «Meine Wonne» / und dein Land «Die Vermählte». Denn der Herr hat an dir seine Freude / und dein Land wird mit ihm vermählt.
5 Wie der junge Mann sich mit der Jungfrau vermählt, / so vermählt sich mit dir dein Erbauer.Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, / so freut sich dein Gott über dich.
6 Auf deine Mauern, Jerusalem, stellte ich Wächter. / Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen. Ihr, die ihr den Herrn (an Zion) erinnern sollt, / gönnt euch keine Ruhe!
Jesaja 62, 1-6
Wenn man über Jahrzehnte einen Gedenkgottesdienst zu so einem konkreten Anlass veranstaltet, dann kann es passieren, dass sich selbst bei ganz unterschiedlichen Bibelstellen Gedanken wiederholen. Aber genau genommen gibt es diese Wiederholung nicht, denn wenn wir uns auch an dasselbe Ereignis erinnern und dieses reflektieren, so wiederholt sich nicht unser Leben. Wir bewegen uns vorwärts, ob wir wollen oder nicht. Die Umstände, unter denen wir leben, der Zusammenhang mit der Welt um uns verändert sich und wird immer wieder neu.
Diese Tatsache kann aber auch dazu führen, dass Ereignisse aus der Vergangenheit verblassen, verzerrt oder verschwommen wahr genommen werden oder ganz anders in Erinnerung bleiben. Es ist kein Zufall, dass das Gedächtnis und die Erinnerung ein elementares Merkmal jüdischer Identität waren und sind. An wie vielen Stellen in der Tora wird auf im wahrsten Sinn des Wortes wegweisende Geschichten, wie die vom Auszug der Israeliten aus Ägypten Bezug genommen. Und auch die Propheten bringen die Geschichte Israels mit seinem Gott eindrücklich in Erinnerung. Und immer geht es in diesen Geschichten um das Zwiegespräch mit Gott, wie die folgende rabbinische Anekdote anschaulich macht.
Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald und dort, am Fuß eines Baumes, immer desselben, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte immer dasselbe Dorf. Er wusste nicht mehr, wo der Baum war, so betete er am Fuß irgendeines Baumes, und Gott hörte ihn. Sein Enkel wusste weder, wo der Baum noch wo der Wald war, er ging zum Beten ins Dorf, und Gott hörte ihn. Sein Urenkel wusste, weder wo der Baum war noch der Wald noch selbst das Dorf. Aber er kannte noch das Gebet. So betete er in seinem Haus, und Gott hörte ihn. Sein Ur-Urenkel kannte weder den Baum noch den Wald noch das Dorf noch die Worte des Gebets. Er kannte aber noch die Geschichte, er erzählte sie seinen Kindern, und Gott hörte ihn.
Es ist nicht irgendein Gott, an den wir glauben, nicht einfach ein höheres Wesen und schon gar nicht eine Energie oder mein anderes Bewusstsein. Es ist der Gott, der sich in der Geschichte offenbart und doch nicht festzumachen ist, aber die Geschichten von ihm und mit ihm, die gilt es weiter zu erzählen, so wie wir als Christinnen und Christen auch den Auftrag haben, die frohe Botschaft des ersten und zweiten Testamentes zu verbreiten. Darin haben die Propheten eine Hauptaufgabe ihres Handelns gesehen, das Wort Gottes zu verkündigen.
Der Prophet will nicht schweigen und will nicht stille sein, auf dass Gott seinen Ruf, seine Klage auch hört. Der Prophet erzählt auch eine Geschichte wie der Ur-Urenkel des Rabbiners, er will sich erinnern, aber mehr noch, er will auch Gott erinnern an seine Verheißungen, an seine Versprechen. Der Prophet will nicht still halten, ehe die Gerechtigkeit wie ein Lichtglanz hervorbricht, damit er von ferne zu sehen ist wie eine brennende Fackel. Aber mehr noch, nicht nur der Prophet schweigt nicht, auch die Männer der Stadt, die auf die Stadtmauern gestellt wurden, sollen nicht schweigen.
Es gibt ein bekanntes Sprichwort: Reden hat seine Zeit, schweigen hat seine Zeit. Die Menschen sollen nicht schweigen, und sie sollen auch Gott keine Ruhe lassen, ehe er für Gerechtigkeit sorgt.Schweigen ist ein beliebtes Mittel, um Dinge auszusitzen, um sich arrogant über Kritik hinwegzusetzen, um die Vergangenheit zu verdrängen, um Unangenehmes auszublenden. Wir kennen das zur Genüge aus der eigenen Geschichte und aus der eigenen Kirche. Damit ist aber niemandem geholfen. Wir haben die Aufgabe, auch das Dunkle, Furchtbare, Grauenhafte ans Licht zu bringen.
Und so erinnern wir uns an die Katastrophe, an dieses Verbrechen, an die albtraumhafte Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Wir haben Augenzeugenberichte und Filmdokumente, aber kann man das Grauen dieser Gewaltakte und die Gefühle der Opfer wirklich fassen?
Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ein paar rechtsradikale Jugendliche heute kämen und ein Fenster im Pfarrhaus einschlagen würden, weil sie zornig sind über die Haltung der Gemeinde und Kirche über den Umgang mit Ausländern und darüber, dass man nicht nur deutschsprachige Inländer als Mitbürger akzeptiert. Ich wäre erschrocken und entsetzt, ich würde mich unsicher fühlen, nicht wissen, was auf mich zukommt, ob ich beobachtet werde oder die Täter noch Schlimmeres vorhätten. Und dann würde ich Unterstützung suchen und den Angriff verurteilen und mich nicht beirren lassen auf meinem Weg.  Ja, ich habe leicht reden, kann mich hinstellen und sagen, was ich mir denke, gegen Gewalt und Rassismus aufrufen, und viele wird es geben, die mich in diesem Kampf bestärken. Damals vor 69 Jahren hat sich der Mob schon dadurch provoziert gefühlt, dass es sich eben um Jüdinnen und Juden handelte, die einfach auch in der Stadt lebten.
Aber das Entsetzliche wurde erst hinterher sichtbar. Solange man denkt, es ist ein Einzelfall, kann ich mich damit trösten, dass die Umwelt auf meiner Seite ist. Der Schock musste nachher noch viel größer gewesen sein, als bekannt wurde, dass die Täter gegen alle jüdischen Einrichtungen vorgegangen waren, und dass plötzlich ein Teil der Bevölkerung nichts dabei gefunden hat, jüdische Geschäfte, Synagogen, Bethäuser zu verwüsten. Da konnte man sich nicht mehr Hilfe suchend an eine höhere Stelle wenden, sondern erntete nur Hohn.
Auch wenn sich die Geschichten verändern und die Erinnerung verblasst, ist es so wichtig, die Geschichten von damals weiterzuerzählen, nicht damit die einen ein wohliges Grauen verspüren und die anderen in Selbstmitleid versinken, sondern damit wir eine Zukunft haben ohne Angst und Feindseligkeit, damit sich solche Dinge nicht so leicht wiederholen können.
Und wir haben mehrere Gründe, uns zu erinnern, und mit dem Erinnern sind auch spezielle Aufträge verbunden. Erinnern wir uns zuerst noch einmal an die noch viel ältere Geschichte. Der Prophet will nicht schweigen. Er erzählt die Geschichte von Eroberung, Zerstörung der Stadt Jerusalem durch die Babylonier, nur ausgebrannte Ruinen waren zurückgeblieben; er erzählt auch von der Rückkehr eines Teils der Verbannten. Die Männer auf den Mauern sollen ebenfalls reden, sie sollen die Bevölkerung ermahnen, nicht nachzulassen in ihrer Bemühung, die Stadt und den Tempel wieder zu errichten. Diese Wächter auf den Mauern werden als die „mazkirim“ (=Erinnernde) bezeichnet, die die Menschen erinnern sollen, dass Gottes Verheißung noch gültig ist trotz Zerstörung und Vernichtung eines Teils seines Volkes, und Gott soll erinnert werden, dass er seiner Verheißung treu bleiben möge. Aus heutiger Sicht ist Erinnern immer ein Prozess und verlangt eine Erweiterung des Horizonts.
Das Eine ist das Erinnern an eine ganz bestimmte konkrete Bluttat und die Verbindung mit einem bestimmten Volk. All zu lange wurden Juden verfolgt, und in grausamer Regelmäßigkeit hat sich dieser oft irrationale Hass entladen, so auch in diesem Pogrom. Wenn wir uns daran erinnern, dann auch an die Geschichte, die uns mit dem jüdischen Volk verbindet, an die Verantwortung, die wir nach 2000jährigem christlichen Antijudaismus haben. Beim Propheten Sacharja finden wir den Ausdruck: Volk Israel als Augapfel Gottes. Wer dieses Volk angreift, der vergreift sich auch an Gott.
Und das ist nicht nur eine Sache der Vergangenheit. Wir brauchen uns keinen Illusionen hingeben. Der Antisemitismus ist wie eine Krankheit, gegen die es zwar Medikamente und Rezepte zur Linderung gibt, aber anscheinend keine wirkliche Chance auf vollständige Heilung. Wenn wir irgendetwas lernen können, dann ist es eine besondere Sensibilität. Wo immer Jüdinnen und Juden diskriminiert werden, das soll registriert werden, darf nicht unwidersprochen bleiben, oft geschieht das unscheinbar in einer gedankenlosen Wortwahl oder einem Witz, wobei die Grenze zwischen jüdischem und antisemitischem Witz oft sehr schmal ist. Dass wir einen rabiaten bedrohlichen Antisemitismus in Europa bei weitem nicht überwunden haben, zeigen die antisemitischen Kundgebungen in unseren Nachbarländern, jüngst in Ungarn, und ich empfinde tiefe Scham darüber, dass reformierte Christen federführend daran beteiligt waren an Veranstaltungen am ungarischen Nationalfeiertag, bei denen Rufe zu hören waren wie: „Juden raus“
Aber wir schauen weiter und sehen nicht nur Jüdinnen und Juden sondern andere Menschen, die verängstigt sind, weil sie diskriminiert werden, weil gegen sie auch in unserem Land immer offener gehetzt wird, damit meine ich unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es kann einem schon kalt über den Rücken laufen, wenn jemand bei der Demonstration gegen die Erweiterung eines islamischen Kulturzentrums ein Modell so eines Gebäudes bei sich hat und es dann wahrscheinlich unter dem Gejohle der Menge anzündet. Sozusagen als Warnung: Wenn ihr euch nicht benehmt, wie wir es wünschen, dann können wir auch anderes in Brand stecken. Die Reaktionen auf diese Demonstration aber zeigen, wie weit wir im interreligiösen Dialog gekommen sind: Es gab klare Stellungnahmen, getrennt und gemeinsam von Vertreterinnen und Vertretern der anderen Glaubensgemeinschaften, die sich gegen die Diskriminierung religiöser und ethnischer Minderheiten aussprechen und für die Durchsetzung religiöser Rechte anderer Glaubensgemeinschaften solidarisch auftreten.
Und dann heben wird en Kopf und schauen noch etwas weiter, blicken in die Welt und sehen all das Leid, die Gewalt und das Elend. Und leider ist das, was wir beklagen und beschwören, dass es nie mehr diese Stadt heimsuchen möge, aus der Welt nicht verbannt. Es gibt die Pogrome in anderen Teilen der Welt, es gibt Demütigung und Unterdrückung, es werden auch Gotteshäuser angezündet und Menschen verschleppt. Und das ist auch eine Lehre aus der Geschichte, niemals das Unrecht und die Gewalt, die anderen zugefügt wird, zu verharmlosen oder zu relativieren. Wir sind aufgerufen, genau hinzuschauen, wo immer Menschen ihrer Rechte beraubt werden und in Angst versetzt werden durch eine Regierung, die Mehrheitsbevölkerung oder einzelner gewalttätiger Gruppen. Wir dürfen nicht das geringste Verständnis aufbringen für jegliche Art von Nationalismus und einer Blut- und Bodenideologie, und für die Entrechtung und die Diskriminierung von Menschen. Ich sage das deshalb so deutlich, weil der sogenannte Krieg gegen den Terror die Menschenrechte bereits aushöhlt hat und wir Gefahr laufen, ein Stück Zivilisation damit preiszugeben und einem neuen Zeitalter der Barbarei damit Vorschub leisten, wenn alles der Sicherheit untergeordnet wird.
Wächter stehen auf den Mauern, ein vielsagendes einprägsames Bild. Sie sind beauftragt, selber nicht zu schweigen und auch Gott keine Ruhe zu lassen; Gott soll an seinen Bund erinnert werden und an seine Verheißung, Frieden und Gerechtigkeit auf diese Erde zu bringen. Heute kann es nicht darum gehen, eine befestigte Stadt mit hohen Mauern zu errichten. Wir werden von Gott vielmehr eingeladen, an einer offenen Stadt mit zu bauen, in der sich niemand fürchten muss, in der alle einen Platz haben mit eine Fackel in der Hand, nicht um etwas anzuzünden und zu vernichten, sondern um das Licht der Wahrheit zu verbreiten, um vom Leben zu erzählen und das uns anvertraute Leben zu bewahren.
Wo sind wir? Was wissen wir noch? Kennen wir noch den Baum, den Wald, das Dorf? Wir sollen jedenfalls die Geschichten erzählen, Geschichten des Grauens und Geschichten der Liebe und der Tapferkeit, Geschichten von Menschen, die auch in dunkler Zeit ihren aufrechten Gang bewahrt haben, und vertrauen wir auf den einen ewigen Gott. Und Gott wird uns hören.
Der Autor ist Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

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