Heller, Agnes DIE AUFERSTEHUNG DES JÜDISCHEN JESUS

“Es gibt kein über Gedächtnis verfügendes Sein, das nicht auch auf die Zukunft ausgerichtet wäre.“
Paul Ricoeur
Der christliche Jesus ist am dritten Tage auferstanden. Zweitausend Jahre waren nötig, damit auch der jüdische Jesus auferstand. Diese beiden Sätze haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Der erste Satz gehört zur Heilsgeschichte und wurde zweitausend Jahre lang nie vergessen. Alle Christen wussten und bekannten immer, so, wie sie auch heute wissen und bekennen, dass Christus am dritten Tag auferstanden ist, wie er jedes Jahr – am Ostertag – wieder und wieder aufersteht. In der Heilsgeschichte kreuzen sich Zeit und Ewigkeit. Hier gibt es keine Vergangenheit, aber eine ewige und wiederkehrende Gegenwart. Der zweite Satz gehört zur Geschichte.
Es dauerte zweitausend Jahre, bis sich sowohl Christen als auch Juden zu erinnern begannen, dass Jesus Jude war. Dieses Wissen war während der zweitausend Jahre in Vergessenheit geraten. Nicht in dem Sinne, dass man vergessen hätte, dass Jesus – mit heutigem Ausdruck - “jüdischer Abstammung“ war. Man hatte vielmehr vergessen, dass er ein guter Jude war. Niemandem fiel ein – warum hätte es auch –, dass Jesus kein Christ war, dass er das Christentum nicht einmal kannte. Jesus von Nazareth wurde in die Christologie eingepasst, und wenn man sich an Jesus erinnerte, erinnerte man sich an jenen Jesus, dessen Bild vom bereits entstehenden Christentum - vom Apostel Paulus und den Evangelien - geschaffen wurde. All das sind heute Trivialitäten. Die Frage, die ich in diesem Aufsatz stellen will, hängt mit der Geburt und Verbreitung dieser Trivialität zusammen.

Im 19. Jahrhundert galten die oben beschriebenen Trivialitäten bei weitem nicht als solche, sondern sie galten - im Lichte der Selbstinterpretation sowohl der Christen als auch der Juden - als skandalös. Die Bücher von Ernest Renan (Das Leben Jesu) wirbelten, obgleich sie dieses Thema nur sehr vorsichtig berührten, einen Sturm auf. Mit diesen Trivialitäten desavouierte Nietzsche das Christentum - vor allem den Apostel Paulus - als Verkörperung des jüdischen Ressentiments. Erst im letzten Vierteljahrhundert wurde die Gestalt des jüdischen Jesus zur Trivialität. Darüber spreche ich im Zusammenhang mit der Auferstehung des jüdischen Jesus. Ich werde zwar nicht die Gründe, aber doch die Umstände und die Bedingungen dieser Auferstehung hinterfragen, gleichzeitig auch die Bedeutung und Aktualität der Fragestellung - und zwar unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden, weiterhin des Erinnerns und Vergessens und im Zusammenhang damit der Philosophie der kollektiven Identitätsbildung; zum Schluss analysiere ich Fragen der Wechselwirkung von Geschichte und Heilsgeschichte.

Die Frage, um die es mir geht, gehört zu den größten Rätseln des Erinnerns und Vergessens. Um eines, was ich zu sagen habe, vorwegzunehmen: Diese Geschichte ordnet das kollektive Erinnern/Vergessen - und damit auch die kollektive Identitätsbildung - eindeutig der Arbeit der Interpretation zu. Aus dem kollektiven - und individuellen - Gedächtnis fällt vieles in dem Sinne heraus, dass man sich nicht daran erinnern kann. Wenn auch Erlebnisspuren existieren, fehlt doch die Kraft oder der Wille, an der Aufklärung dieser Spuren zu arbeiten. Es gab Texte, die man aus der Tiefe der Archive hätte ans Tageslicht schaufeln können, in die aber, sagen wir, fünfhundert Jahre lang niemand einen Blick warf - entweder, weil sie nicht für lesenswert gehalten wurden oder weil man die Sprache, in der sie geschrieben waren, nicht verstand. Es kam jedoch auch vor, dass die Spuren für den möglichen Interpreten verschwunden waren. Solange beispielsweise die großformatigen griechischen Bronzestatuen nicht gefunden werden, kann man sich nicht an sie erinnern. Grundlage der Erinnerung an die griechische Bildhauerkunst sind die Marmorstatuen und vor allem die römischen Kopien. Oder, um beim Thema zu bleiben: Wer hätte sich an die Gemeinschaft erinnern können, die am Toten Meer gegründet wurde, und von der einige Gläubige auch in Jerusalem lebten? Auf der Flucht vor dem angreifenden römischen Heer versteckten sie ihre heiligen Schriften in Höhlen, um nach dem Ende des Krieges zurückzukommen und sie zu holen. Nichts blieb von ihnen, bis man zweitausend Jahre später durch einen Zufall auf ihre Texte stieß, die bereits in ewigem Vergessen versunken waren. Die Frage ist, ob wir jetzt, nachdem wir gefunden haben, was nicht für uns gedacht war, überhaupt in der Lage sind, uns an sie zu erinnern. Das ist übrigens eine wichtige Frage, auf die ich hier keine Antwort suchen kann. Kann man sich an etwas erinnern, an das man sich zweitausend Jahre lang nicht einmal in Form von Spuren erinnert hat? Bleiben diese Gemeinschaften für uns nicht geistig tot, ganz egal, wie viel wir jetzt über sie erfahren können, nachdem zweitausend Jahre vergangen sind? Können nicht nur diejenigen auferstehen, von denen wir in irgendeiner Form immer etwas wussten, die wenigstens Spuren hinterlassen haben im Sand unseres Gedächtnisses?

Nun, im Falle des jüdischen Jesus geht es nicht nur um etwas gänzlich anderes, sondern gerade um das Gegenteil des Falls von der Gemeinschaft am Toten Meer. Einigen fällt es sehr schwer, dies zur Kenntnis zu nehmen. Sie sehen den Grund für die Auferstehung des jüdischen Jesus genau in der Tatsache, dass am Toten Meer die Rollen entdeckt wurden und dass man in ihnen völlig neue Informationen über den historischen Jesus und die Geburt des Christentums fand. Ich schließe mich denen an, die behaupten, dass das bei weitem nicht so sei. Die sensationellen Interpretationen, die sich angeblich auf neue Informationen stützen, sind schlicht und einfach erdichtet. Zuweilen sind sie von verblüffender Kuriosität, wie zum Beispiel die von Barbara Thiering, die den “Lehrer der Gerechtigkeit“ aus der Kriegsrolle mit Johannes dem Täufer, den “gottlosen Priester“ mit Jesus identifizierte! Die Annahme, Jesus hätte irgend etwas mit der Sekte der Essener zu tun gehabt, ist älter als die Entdeckung der Rollen vom Toten Meer, und ihr Fund hat durch nichts zur Bestätigung dieser Theorie beigetragen, allerdings auch nicht zu ihrer Widerlegung. Es wurden zahlreiche tentative Theorien über einzelne Zusammenhänge formuliert. So hält David Flusser es für möglich, dass zwar Johannes der Täufer Kontakt zu den Essenern gehabt habe, Jesus jedoch nicht. Géza Vermes verweist darauf, dass in der Quellgegend des Aufbaus der christlichen Kirche Paulus die hierarchische innere Struktur der Essener als Modell gedient haben könnte. Aber all das hat ziemlich wenig mit dem Gesicht des Jesus von Nazareth zu tun.

Ricoeur hat in Anlehnung an Freuds Theorie von der aktiven bzw. passiven Erinnerung zwischen aktivem und passivem Vergessen unterschieden. Im Falle des Vergessens des jüdischen Jesus wäre es jedoch schwer, das aktive vom passiven Vergessen zu unterscheiden. Die Texte waren lesbar und erreichbar, und insofern könnte man ihr Vergessen als aktives bezeichnen, zugleich haben jedoch die Gläubigen von Generation zu Generation eine bestimmte Lesart des Textes geerbt, jene Lesart, die ein gewisses, antijüdisches Vergessen fixierte und dadurch andere Interpretationen, das heißt andere Lesarten des Textes, beinahe unmöglich machte. Insofern haben wir es also mit passivem Vergessen zu tun. Es ist interessant, dass die Ketzer wussten, was die katholischen Christen vergessen hatten. So beteuerten die Manichäer nach Zeugnis des Heiligen Augustinus (Confessiones V, 11), dass Unbekannte die Heilige Schrift des Neuen Testaments gefälscht hätten, weil sie die Gesetze der jüdischen Religion ins Christentum einschreiben wollten.
Was die Auferstehung des jüdischen Jesus angeht, würde ich hier von aktivem Erinnern sprechen, aber bei der Rechtfertigung dieser Erinnerung durch angebliche oder tatsächliche neue Entdeckungen und Kenntnisse spielt auch das passive Erinnern eine Rolle.

Nachdem bereits das Bedürfnis bestand, dass der jüdische Jesus auferstehen bzw. zur Auferstehung gebracht werden solle, interpretierten viele die Rollen vom Toten Meer in diesem Sinne, in diesem Geiste. Ich denke in erster Linie an Gelehrte und Religionsphilosophen, nicht an Publizisten und Schriftsteller. Die “Modernisierung“ Jesu ist eine Modeerscheinung, und wie alle Moden nimmt auch diese oft extreme Formen an. Unsere Zeit ist die Zeit von “Jesus Christus Superstar“, die Zeit der Mode verschiedenster - guter oder schlechter - Jesusfilme. Nicht nur der jüdische Jesus wird entdeckt, sondern es wird beispielsweise auch das Bild des Hindu-Jesus geschaffen (Hanna Wolff, Der universale Jesus). Unsere Zeit ist auch die Zeit der Jesus-Seminare. Das kalifornische Jesus-Seminar ist berühmt-berüchtigt, seine Papierproduktion kann vielleicht schon in Tonnen gemessen werden. Ich habe auch gehört - kann es jedoch nicht überprüfen -, dass die Interpretationen im Zusammenhang mit Jesus in einzelnen Fällen durch Abstimmung entschieden werden. Wie heutzutage in vielerlei Hinsicht mischt sich auch hier Interessantes und Beachtenswertes mit Bizarrem und Sensationshascherei.

Im folgenden stütze ich mich nicht auf Strömungen, sondern auf einzelne Bücher, und zwar nur auf solche, die den jüdischen Jesus meiner Meinung nach durch eine vertrauenswürdige geschichtliche bzw. heilsgeschichtliche Interpretation auferstehen lassen.
Lassen Sie mich nun zu der eigenartigen Beschaffenheit dieser Angelegenheit von Vergessen und Erinnern zurückkehren. Ich habe bereits erwähnt, dass keinerlei Entdeckung wesentlich zur Umgestaltung des Jesusbildes beigetragen hat. Die Gestalt des jüdischen Jesus beruht letzten Endes oder vielleicht vollständig auf der Lektüre der synoptischen Evangelien, sie interpretiert Texte neu, welche zweitausend Jahre lang nie in Vergessenheit gerieten, von denen jeder wusste und die von allen Christen gelesen wurden, die Latein - später auch ihre Muttersprache - lesen konnten. Dies war DAS BUCH. Heute wird es von weniger Menschen gelesen als früher. Trägt dieser Umstand vielleicht dazu bei, dass es anders gelesen wird? Ganz gleich: Einige Autoren stützen sich, wenn sie das Bild des jüdischen Jesus zeichnen, ausschließlich auf die synoptischen Evangelien.
Es ist richtig, dass die synoptischen Evangelien zumeist kritisch gelesen werden; man unterscheidet in ihnen die verschiedenen Schichten, Werke verschiedener Autoren, ihre Veränderungen und Korrekturen. All dies trägt jedoch nicht wesentlich zur Veränderung des Jesusbildes bei, denn dieses stützt sich trotz alledem auf den tradierten geschriebenen Text. Ich will die Berechtigung dieser bibelkritischen Arbeit nicht bezweifeln, wenn ich ihr aus dem Blickwinkel meiner Frage sekundäre Bedeutung zumesse. Mieke Bal vergleicht in ihrem Aufsatz “Balancing vision and narrative“ die Aufspaltung der biblischen Texte in Schichten, wie Leach es tut, mit der Zerlegung eines Omeletts in seine Bestandteile (unscrambling of the omelette) und hält sie für völlig unproduktiv. Ich halte sie nicht für unproduktiv, aber - in diesem Fall weder für eine Ursache noch für eine Folge.

Es ist ebenso richtig, dass wir heute auch die Möglichkeit haben, die Lehren Jesu mit anderen zeitgenössischen Texten zu vergleichen. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil wir erfahren - was wir freilich im Prinzip immer angenommen haben -, dass Jesu Gleichnisschatz aus dem allgemeinen Gedanken- und Erlebnisschatz seiner Zeit schöpft. Eine solche Gegenüberstellung unternimmt Flusser in seinen Aufsätzen; er analysiert die Seligpreisungen Jesu, vergleicht sie mit anderen Seligpreisungen, zeigt Parallelen und Abweichungen auf. Es ist sehr wichtig, die Stimmung in gewissen Äußerungen von Jesus zu kennen, seine gedanklichen Assoziationen, ihre eventuelle polemische Absicht in der Zeit, in der er sie gesagt hat. Was bedeutet Menschensohn? Wer ist der Messias? Wer der Rabbi? Wer der Profet? Was bedeutet “Die Zeit ist da“? Lesen wir die Midraschim (Bibeltext-Auslegungen) Jesu, erweitert es unseren Horizont, wenn wir andere, ähnliche oder abweichende, Auslegungen aus seiner Zeit kennen. Wenn wir seine Gleichnisse lesen, schadet es nicht, wenn wir etwas über die allgemeine Verwendung von Gleichnissen in seiner Zeit wissen. Sprechen wir von Maria oder Maria Magdalena, schadet es ebenso wenig, zu wissen, dass den Pharisäern vorgeworfen wurde, unter ihren Anhängern befänden sich zu viele Frauen. Die Kenntnis all dieser Dinge schadet wie gesagt nicht, sie ist sogar leicht in das Bild des jüdischen Jesus integrierbar, wenn dieses Bild bereits vor uns schwebt. Aber diese einzelnen Tatsachen gestalten das Bild des jüdischen Jesus nicht. Denn das Bild ist immer ein Ganzes und besteht nicht aus voneinander unabhängigen Mosaiksteinchen. Das Bild des jüdischen Jesus, ich wiederhole es, ist die radikal neue Interpretation eines stets bekannten Textes, nichts anderes. Im Wesentlichen ist es eine interpretative Wende um einhundertachtzig Grad, im Zuge derer der jüdische Jesus auferstanden ist. Ich will - wenn auch nur als Einleitung - noch einmal die Frage stellen, die ich schon angedeutet habe: Wenn ich von der Auferstehung des jüdischen Jesus spreche, spreche ich dann von einer geschichtlichen oder von einer heilsgeschichtlichen Frage? Meine ursprüngliche Formulierung war folgende: Die Auferstehung des jüdischen Jesus nach zweitausend Jahren ist eine geschichtliche Frage, die Auferstehung Christi am dritten Tage eine heilsgeschichtliche. Geschichte und Heilsgeschichte kreuzen sich weder, noch widersprechen sie sich, weil sie sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielen. Die Heilsgeschichte geschieht immer unter der Ägide der Ewigkeit, und in diesem Sinne ist sie zeitlos, während die Geschichte begriffsgemäß zeitlich ist. Hier gibt es Vergangenheit, historische Vergangenheit; etwas, das vergangen ist und das man nicht zur Gegenwart machen kann.

Wenn ich von der Sensationshascherei oder Unterhaltungsliteratur absehe, spielen die Hauptrolle bei der Auferstehung des jüdischen Jesus die Historiker, besonders die Religionshistoriker. Die Frage ist nun, ob ein solches historisches Erinnern in der Erinnerungsgeschichte der Religionen eine Rolle spielt. Yerushalmi schreibt in Zachor, dass die Geschichtsschreibung das kollektive Gedächtnis nicht ersetzen könne, und in dieser Hinsicht stimme ich mit ihm überein. Er fügt hinzu, dass die Geschichtsschreibung in sich nicht einmal Anzeichen für die Fähigkeit zeige, irgendeine alternative Tradition schaffen zu können, an der die Gemeinschaft Anteil nehmen könnte. Hier bin ich nicht so sicher.
Im Fall der Auferstehung des jüdischen Jesus ergibt sich nämlich eine besondere Situation. Obwohl sich in erster Linie Historiker mit ihr beschäftigen, ist die Sache doch zur Angelegenheit breiterer religiöser, vor allem christlicher, Gemeinschaften geworden. Vielleicht auch, weil die Auferstehung des jüdischen Jesus beinahe ausschließlich, zuweilen ganz und gar, auf heilsgeschichtlichen, heiligen Texten basiert, die in den christlichen Gemeinschaften bekannt sind und die man jetzt anders zu lesen beginnt. Zugleich spielen die neu ausgegrabenen historischen Tatsachen, welche wiederum ursprünglich nicht historisch sind, sondern die Funken oder Mosaike der Heilsgeschichte anderer religiöser Gruppen – beispielsweise der religiösen Gemeinschaft am Toten Meer –, bei dieser Auferstehung nur eine Helferrolle. Die Frage ist nun, ob der heilsgeschichtliche Text mehrere, voneinander abweichende Interpretationen haben kann, zumal eine geschichtliche und eine heilsgeschichtliche. Oder, anders ausgedrückt, ob eine Auslegung möglich ist, die zugleich heilsgeschichtlich und geschichtlich genannt werden kann, abhängig davon, wer sie schreibt, wer sie liest, welchen Wahrheiten oder Wahrheitsbegriffen und welchen Absoluta die Interpretation sich anschließt.

Dies ist ein wirklich wichtiges Kriterium. Beginnen wir gleich mit der Frage nach den Absoluta. Es sind sowohl Juden als auch Christen, die den jüdischen Jesus auferstehen lassen. Sie stellen - wenn auch oft unter jüdischem und christlichem Gesichtspunkt - denselben Jesus vor. Dabei stützen sie sich vor allem auf die synoptischen Evangelien. Nur ist für die Juden Jesus, der jüdische Jesus, nicht Christus, und die synoptischen Evangelien sind historische Quellen, während für die christlichen Interpreten der jüdische Jesus mit Christus identisch ist und die synoptischen Evangelien heilige Texte sind, ganz egal, wer sie geschrieben hat. So könnten wir also – zumindest vorläufig – sagen, dass der nach zweitausend Jahren auferstandene jüdische Jesus für die Juden eine bedeutende Gestalt der jüdischen Geschichte, ein Seher, vielleicht ein Profet ist, aber auf keinen Fall der Messias, während Jesus in der christlichen Geschichte eine heilsgeschichtliche Gestalt ist: er ist der Christus, der Messias. Die heilsgeschichtliche und die geschichtliche Ebene treffen einander nicht, weil sie von Verschiedenem sprechen, selbst dann, wenn sie dieselbe Geschichte erzählen. Der jüdische Jesus ändert ebenso nichts am Dogma der Dreifaltigkeit, wie er nichts daran ändert, dass das Judentum das Christentum ablehnt. Dennoch kann die Erinnerung nicht nur gemeinsame Elemente, sondern auch ähnliche Folgen haben.

“Das Sein, das über Gedächtnis verfügt, ist auf die Zukunft gerichtet“, habe ich im Motto dieses Aufsatzes Ricoeur zitiert. Wenn Christen und Juden den jüdischen Jesus in ihr Gedächtnis zurückrufen, weist diese Geste des kollektiven Gedächtnisses nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Wenn wir uns von nun an auf diese Weise erinnern oder zumindest auch auf diese Weise, dann wird sich gemeinsam mit unserer Vergangenheit auch unsere Zukunft ändern. Die Zukunft jenes Judentums und jenes Christentums, das sich an den jüdischen Jesus erinnern kann, ist anders als die Zukunft derer, die den jüdischen Jesus vergessen haben.
Die Autorin ist Hannah Arendt Professorin für Philosophie an der Graduate-Faculty der New School University for Social Research in New York

Vorwort aus dem Buch von Agnes Heller “Die Auferstehung des jüdischen Jesus“, aus dem ungarischen übersetzt von Christina Kunze, Philo Verlag Berlin/ Wien 2002, 118 Seiten. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

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